NeuroZeit

Gespräche - Newsletter "Leben"

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NeuroZeit - "Leben"

Wenn in Schulen Seelen zerbrechen...

......Würdest du nach einem Marathon, wenn jemand im Ziel ankommt, einen zweiten zur Erholung empfehlen?

Eher nicht, oder? Nun, Eltern neurodivergenter Schülerinnen und Schüler (SuS) bekommen ähnliche Ratschläge regelmäßig zu hören. Ihre Kinder sollen aushalten, immer und immer wieder. Und jedes Aushalten wird als Begründung für ein nächstes genommen.

Marathon folgt auf Marathon, bis zur totalen Erschöpfung. Bis Seele und Körper vollkommen ausgelaugt sind, die Kraft fehlt, auch nur aufzustehen.

Wenn nur noch Funktionalität zählt

In vielen Schulen wird noch immer eine "hohe Funktionalität" in den Vordergrund gestellt. Statt die tatsächlichen inneren Vorgänge neurodivergenter SuS zu erkennen und zu respektieren, geht es um eine äußere Anpassung. Konformität wird eingefordert: SuS sollen verdecken, wie sie sind. Sollen still- und aushalten.

Wie es sich anfühlt: Reizverschmutzung

Viele Kinder und Jugendliche erleben einen Lernort, der per se nicht auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Geräusche, Berührungen, Licht, Gerüche, Bewegungen, Unlogik, all das wird von ihnen in großer Breite & Tiefe bewusst gespürt und prozessiert. Sie leben in einer Welt voller "Reizverschmutzung".

Dieses "zu viel an Reizen" kann von vielen neuronormativen Lehrkräften & "Fachleuten" gar nicht wahrgenommen werden. Sie können weder spüren, hören, riechen, schmecken noch sehen, was einige der SuS bewusst erleben. So können sie nicht nachvollziehen, was diese Kinder täglich aushalten müssen.

Zwei neurologische Settings treffen aufeinander, doch nur eines bestimmt die Regeln. Das Ergebnis ist ein immenser Druck. Das nach nach außen funktionieren ist die Richtschnur.

Das Leid im Inneren

Doch diese Menge an Reizen ist nicht auszuhalten. Von niemanden. Man behauptet oft neurodivergenten Kindern und Jugendlichen wären empfindlich. Doch in Wahrheit ist ihre Stress-Resilienz riesig. Was sie über Jahre ertragen, lässt sich kaum in Worte fassen.

Und so tragen sie einen Berg aus Leid durch den Schulalltag. Stemmen sich Tag für Tag gegen Auswüchse einer reizüberbordenden Lern-Welt, die für anderen nicht mal erkennbar sind. Geben alles, um das Label "funktioniert" und "stört nicht mehr" zu erhalten.

Das Leid, welches sich in ihren Seelen sammelt, wird nicht erkannt. Der schulische Uniformismus zwingt allen SuS den gleichen Weg auf. Egal, ob er zu ihrem neurologischen Setting passt oder nicht. Schule wird zum "One size fits all", ohne der neurologischen Vielfalt gerecht zu werden. So wird der Meltdown aufgrund einer unpassenden Umwelt zum Symbol für ein Versagen, statt als Ausdruck der Qual.

Der Schmerz wird Zuhause sichtbar

Viele Eltern erleben zuhause das Ergebnis des Drucks. Ihre Kinder brechen zusammen. Manche sitzen teilnahmslos auf dem Bett, starren die Wand an. Andere verletzen sich selbst. Ritzen, schlagen sich. Nur, um dem Sturm oder der um sich greifende Leere in ihren Herzen für eine Sekunde zu entkommen. Schmerz wird gegen Leid getauscht.

Der Blick der Eltern

Eltern sehen, wie wenig ihre Kinder in der Schule mitgedacht werden, Stigmatisierung und Vorurteile noch immer existieren. Hier teilt sich die Bewertung der Eltern. Einige versuchen ein Verdecken, ein Masking zu forcieren, damit ihre Kinder der Stigmatisierung entgehen. [Auf Masking und die Folgen werde ich in einem späteren Newsletter (NL) eingehen.] Anderen ist die Neurodivergenz der Kinder (noch) nicht bewusst. [auch dazu mehr in einem extra NL]

Doch immer mehr Eltern gehen einen anderen Weg: Wünschen, dass ihre Kinder erkennbar sie selbst sind. Dies möchten sie den Lehrkräften berichten, ihre Kinder schützen. Ihr Herzenswunsch ist, dass ihre Kinder nicht mehr den Preis dafür zahlen, in einer Welt zu leben, die ihre Bedürfnisse nicht (an)erkennt.

Das Funktionalitäts-Narrativ

Doch Schule wird noch viel zu oft durch ein Funktionalitäts-Narrativ geleitet: Wenn SuS nicht zeigen dürfen, wie viel Leid sie tragen, wird dies zum Narrativ, "hat doch geklappt, las uns weiter machen". Das erzwungene Verdecken des Leides wird zum Beweis, dass es kein Leid gibt. Der "Beweis", dass Druck funktioniert, führt zum Aufrechterhalten des Drucks.

Verdecken als Lebensaufgabe

Manchen Eltern wird empfohlen, zuhause weiter Druck auszuüben. Hätte ja in der Schule zum Erfolg geführt. Doch ihre Kinder kommen völlig erschöpft heim, haben kaum die Kraft, ihre Jacke, ihre Schuhe auszuziehen. Können nicht einmal mehr Essen, weil die Kraft fehlt, die Gabel zu halten.

Die Eltern spüren, wie sich ihre Kinder langsam auflösen. Wie sie jeden Schultag weniger Freude fühlen können. Sie erleben, wie ihre Kinder in einen Zustand geraten, wo selbst die Erinnerung an erlebte Freude verschwindet. Ein Königreich für ein Kinderlachen.

Der Schmerz der Kinder wird zum Schmerz der Eltern

Eines Tages können sich die Eltern nicht mal mehr daran erinnern, wie es war, als ihr Kind das letzte mal gelächelt hat. Der Schmerz ist zu einem farblosen Leid geworden, das sich über alles legt.

Tag für Tag zahlen Kinder den Preis des Maskings: Um dessen Qualen auszuhalten, müssen sie den Kontakt zu ihren Köpern aufgeben. Doch wenn ein Kind aufhört, den eigenen Körper zu spüren, verliert es das Glück des Entdeckens der eigenen Möglichkeiten. Es wird still, nach innen und außen.

Schutz bieten

Ein junger Mensch zerbricht von den Augen der Eltern. Und damit müssen Eltern Tag für Tag leben. Alles was sie sich wünschen, ist ihr geliebtes Kind zu beschützen. Sie möchten für ihre Kinder ein Leben, in dem sich diese entfalten können. So, wie es der eigene Körper vorgibt.

Dazu gehört, dass sich diese Kinder schützen müssen vor einem Zuviel, dass andere gedankenlos produzieren. Immer wieder bitten Eltern, dass ihre Kinder NC-Kopfhörer, eine Sonnenbrille, ein Cappy nutzen dürfen. Sie fragen nach ein ruhiger Platz, Rückzug in der Pause.

Es bedarf so wenig um vielen neurodivergenten SuS einen menschenwürdigen Lernort zur Verfügung zu stellen. Wie oft wird ihnen dieses wenige verweigert. Wie oft müssen Eltern zusehen, wie ihre Kinder ungeschützt einen "Zuviel" ausgesetzt sind. Nur, weil andere dieses "Zuviel" nicht wahrnehmen können.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Wann hören wir auf, Kinder zu zwingen, sich selbst zu verlieren, nur um nach außen zu funktionieren?

Wann wird das Lächeln eines neurodivergenten Kindes mehr wert sein, als seine Anpassung an ein Leben, das nicht auszuhalten ist?

Wir brauchen endlich eine Gesellschaft, die anerkennt, dass Menschen sich nur dann gesund leben können, wenn sie mit ihren Körpern im Einklang leben können.

Es ist an der Zeit, dass wir diesen Kindern ihr Glück zurückgeben.

 

 

Disclaimer:

 

  • Danke an Maria Klitz für die Unterstützung bei der Auswahl des passenden Bildes
  • Danke an Philipp Catani für die Inspiration zu Konformität versus Uniformität

 

Reduced Sensory Habituation in Autism and Its Correlation with Behavioral Measures

Autismus und Schule - Ein Wegweiser für Lehrkräfte

Factors of Bullying Victimization Among Students on the Autism Spectrum: A Systematic Review: "..autistic students face a heightened risk of bullying.."

The combination of autism and exceptional cognitive ability is associated with suicidal ideation: "...increasing cognitive ability is an unexpected risk factor for suicidal ideation in individuals diagnosed with, or at risk for autism..."

"Unmask yourself"

Man hat dir tausendmal gesagt, wer du sein sollst. Jetzt ist es an der Zeit, dich auf deinen eigenen Weg zu machen. 

Beim Demaskieren geht es nicht um das Außenverhältnis, sondern um dich: 

Wer bist du? Was sind deine Möglichkeiten & Bedürfnisse? 

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